5. Ich bin nicht so alleine wie ich mich fühle

 

Svenja: Wir sollen uns fernhalten, man hört das Wort „Kontaktverbot“, man soll zu Hause bleiben – das ist schon eine echte Herausforderung! Da kann man es schon einmal mit der Einsamkeit zu tun bekommen.

 

Dietmar: Das ist ein sehr ernsthaftes Problem. Einsamkeit ist das Lebensrisiko Nummer eins, sagt der renommierte Psychiater und Gehirnforscher Manfred Spitzer in seinem vor 2 Jahren erschienenen Sachbuch. Wer einsam ist, erhöht damit das Risiko für die gefährlichsten Erkrankungen – wie zahlreiche Studien belegen. 
So haben wir es hier mit einem Teufelskreis zu tun: Wir isolieren uns, um unsere Gesundheit zu schützen. Aber wenn wir dadurch umso mehr mit Einsamkeit zu kämpfen haben, schränken wir unsere Gesundheit inklusive unserer Immunabwehr und Selbstheilungskräfte ein. 

 

Svenja: Aber was bleibt uns weiter übrig? Zumal die sogenannten sozialen Medien doch nicht so sozial sind, um unser Bedürfnis nach menschlicher Nähe stillen zu können.

 

 

Dietmar: Mir kommt das melancholische Herbstlied von Rilke in den Sinn: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ Und doch gibt es eine andere Seite in uns, die sich dem entgegenstellt. Ein unbesiegbarer Frühling und Sommer, den es nicht nur um uns herum, sondern auch in uns gibt. Konkreter: das Wissen um eine tiefe Verbundenheit. 

 

 

Svenja: Wie soll ich da herankommen? Wenn ich unfreiwillig alleine bin, kann ich von dem Gefühl des Allein- und Abgeschnittenseins völlig beherrscht werden.  

 

 

Dietmar: Schauen wir uns mal an, welche Geschichte dieses Gefühl des Getrenntseins hat. Im Mutterleib haben wir uneingeschränkte Verbundenheit erlebt. Dann war es unmittelbar nach unserer Geburt ein massiver Einschnitt, dass unsere Nabelschnur durchtrennt wurde. Seitdem denken wir: oh Schreck, wir sind voneinander getrennt und auf uns selbst gestellt und müssen nun viele Anstrengungen unternehmen, um miteinander in Verbindung zu kommen.  
Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Es gilt auch: Wir bleiben lebenslang mit den Menschen in Verbindung, mit denen wir eine emotionale Verbindung eingegangen sind – selbst wenn unsere Wege auseinandergehen. Das entdecken wir in ganz vielen Facetten in der Systemischen Beratung – so wie wir sie hier in Marburg praktizieren und lehren. An welchen Punkten ich die Verbundenheit neu spüren kann, fühle ich mich wieder ein bisschen sicher, vielleicht sogar geborgen oder gar geliebt.

 

 

Svenja: Das hört sich noch etwas abstrakt an. Woran wäre zu denken, um dem Gefühl einsam zu sein, etwas entgegenzusetzen?

 

 

Dietmar: Ich kann mir Erfahrungen der Verbundenheit vor Augen stellen, die zu meiner Lebensgeschichte gehören. So kann ich dich und die uns zuschauen mal anregen, sich auf die Suche zu machen. Ich raffe es jetzt zeitlich. Es soll als Anregung dienen, sich selbst dafür mehr Zeit zu nehmen. Wollen wir uns mal auf Entdeckungsreise machen?

 

 

Svenja: Ja.

 

 

Dietmar: Wie haben dich in deinem ersten Lebensjahrzehnt Menschen begleitet und ihr Bestes gegeben, damit du dich geborgen fühlst und etwas lernen kannst. Beobachte, welche Menschen dir einfallen. Vielleicht tauchen auch Gesichter in deiner Erinnerung auf. Gehe nun weiter in der Biografie. Wo hast du die Freundlichkeit und Verbundenheit mit anderen Menschen genossen? Lasse verschiedene Personen und Situationen auf deinem inneren Bildschirm Revue passieren. 

 

Sei dir bewusst, dass dir nur ein Bruchteil eingefallen ist. Wenn alle präsent wären, die dir Gutes getan haben, kämen sehr viele Menschen zusammen.
Nun überlege, über welche Verbundenheit du in deiner gegenwärtigen Lebenssituation verfügst. Welche Menschen würden sich nicht verschließen, wenn du eine berechtigte Bitte an sie richtest. Lassen Sie auch dafür Gesichter an sich vorbeiziehen.

 

 

Svenja: Okay, das war jetzt doch allerhand.

 

 

Dietmar: Wenn ich also mal nach Erfahrungen von Verbundenheit suche, kann ich zumindest mutmaßen: Vielleicht bin ich gar nicht so alleine, wie ich mich manchmal fühle.

 

 

Svenja: Fällt dir noch etwas ein, mit dem Einsamkeitsgefühlen begegnet werden kann?

 

Dietmar: Manchen ist der bekannteste Psalm – der 23. - aus dem Gebetsbuch der Bibel vertraut. Da heißt es: „Und ob ich wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück“ (Psalm 23,4). Da ist schon etwas sehr Unerfreuliches passiert, weil es nun durch eine solch dunkle Talsenke geht. Und viele empfinden die gegenwärtige Situation so. Aber das wirklich Schlimme – also das eigentliche Unglück wäre, sich mutterseelenallein zu fühlen. Doch das ist nicht nötig. So heißt es in diesem Gebet weiter:  „Denn du bist bei mir“. Da flackert die Gewissheit auf: Was auch immer passiert - Gott und andere mir irgendwie zugewandte Menschen sind immernoch da und begleiten mich, auch wenn ich sie nicht sehe und spüre. Trotz allem bin ich verbunden und nicht alleine – auch wenn ich krank werde und sonst in irgendeiner Weise Hilfe brauche.

 

 

Svenja: Dann könnte ja gerade die jetzige Situation eine Gelegenheit sein, sich der Solidarität zu vergewissern. Und wie sehr wir miteinander verbunden sind.

 

 

Dietmar: Genau. Wir bekommen wieder eine Ahnung, dass kein Mensch eine Insel ist. Was einem geschieht, geschieht auch allen anderen. Darin legt eben auch etwas Tröstliches, weil es uns an unsere Verbundenheit erinnert.