4. Handlungsfähig statt ausgeliefert

 Svenja: Beschäftigen wir uns mit dem Thema Stress, der auf vielfältige Art und Weise gerade in der aktuellen Situation die Menschen begleitet. Stress bedeutet zunächst nichts anderes als Anspannung, die positiv oder negativ empfunden werden kann. Wann wird es wirklich stressig, also unangenehm mit dem Stress?

 

Dietmar: Als ich in den 90er Jahren über Stress geforscht habe, fiel mir ein Knackpunkt auf: Wenn sich das Gefühl ausbreitet, dass ich Umständen oder Personen ausgeliefert bin, ist Schluss mit lustig. Ich erlebe eine starke emotionale Anspannung, die – wenn sie massiv, lange und ständig oder häufig auftritt, zu Erschöpfung führen kann.

 

Svenja: Dieses Gefühl, den Umständen ausgeliefert zu sein, bringt ja die Corona-Krise für viele Menschen in ungewohnter Weise mit sich.

 

Dietmar: Genau. Man fühlt sich ausgeliefert, weil man gegen den eigenen Willen manches nicht mehr machen kann: arbeiten, Freizeitaktivitäten nachgehen, reisen etc. Erschwerend kommt hinzu, dass die Einschränkungen „auf unbestimmte Zeit“ verhängt sind.

 

Svenja: Gibt es bei alledem auch eine gute Nachricht?

 

Dietmar: Ja, zum Glück. Diese Einschätzung: ich kann nichts machen ist eine durch und durch subjektive. Sie vollzieht sich zwischen unseren beiden Ohren, also einen Raum, auf den wir mehr Einfluss haben als auf das, was um uns herum passiert.  
Du kannst das mal selbst testen und unsere Zuschauer mit dir. Denke mal an eine Situation aus der letzten Zeit, in der du den Stress der unangenehmen Sorte erlebt hast. Fühle dich mal hinein, wie es war als die Anspannung ihren Höhepunkt erreicht hatte. Und stelle dir vor, das Stresserzeugende / Belastende – Stressor genannt - fühlte sich wie schmutziges Wasser an, in dem du stehst. Die spannende Frage ist. Wie hoch stand es dir?
Bis zu den Knöcheln, so dass Sie sich gut bewegen konnten?  Bis zur Gürtellinie, so dass sie noch genug Handlungsspielraum hatten?  Oder war der Stressor so beängstigend, dass es dir  bis zum Hals stand?

Bestimme mal den Stresspegel. Und wie ist es, wenn du jetzt mit etwas Abstand darauf schaust und dir vor Augen führst, wie es dann weiterging und du ja irgendetwas getan hast, um die Situation zu bewältigen? Ist aus dieser Perspektive der Frustpegel noch an der gleichen Stelle oder hat sich etwas verändert?

 

Svenja: Mit etwas mehr Abstand sehe ich mehr die verbliebenen Möglichkeiten als in der akut bedrängenden Situation und fühle mich nicht mehr so ausgeliefert.
Welche Schlüsse ziehst du daraus? 

 

Dietmar: Wir entscheiden uns also in der bedrängenden Situation unbewusst dafür, uns ausgeliefert zu fühlen. Das gilt umso mehr, wenn wir es jetzt vermehrt erleben, wir die Gegebenheiten als fremd erleben. Das bedeutet, dass wir nicht auf viele Erfahrungen zurückgreifen können, diese Umstände gut bewältigt zu haben.

Wenn wir uns aber die Situation bewusst machen, können wir entdecken, dass wir so ausgeliefert, wie wir uns fühlen oder gefühlt haben, gar nicht sind.

 

Svenja: Aber worauf gründet sich diese neue Einschätzung?  

 

Dietmar: Ich erhebe den Blick um zu erkennen, wie ich immer noch Freiräume habe. Schließlich verfüge ich immer noch über Ressourcen: mein Leben, dass das Meiste an mir immer noch funktioniert, meine Fähigkeiten, meinen Erfahrungsschatz und Menschen, die bereit sind, mich zu unterstützen u.v.m.

 

Svenja: In der beängstigenden Situation übersehen wir das schnell. Kann man sich darin einüben, mehr die Möglichkeiten zu sehen als die Einschränkungen?

 

Dietmar: Sicher. Wir können uns jeden Tag vor Augen führen, welche Handlungsspielräume wir trotz allem haben, also was wir in welcher Weise tun können oder auch lassen. Dabei können wir auch auf die kleinen Unterschiede achten. Dann kann uns beispielsweise eine Mahlzeit wie ein Festival von Möglichkeiten erscheinen. Was wir essen, wie viel, in welcher Reihenfolge, was besonders unsere Aufmerksamkeit bekommt und wir uns besonders auf der Zunge zergehen lassen usw.

Das alles kann ich als Zeichen sehen, reich von meinem Schöpfer beschenkt zu sein, der es gut mit mir meint und dessen Möglichkeiten – so unwahrscheinlich es mir manchmal vorkommen mag – unbegrenzt sind.

 

Svenja: Ich sehe also meine Handlungsmöglichkeiten, was dem Gefühl ausgeliefert zu sein, weniger Raum gibt.

 

Dietmar: So ist es. Dieses bedrückende Gefühl muss sich vor der Tür meiner Aufmerksamkeit zumindest hintenanstellen. Denn ich bin davon in Anspruch genommen, meine Handlungsfähigkeit in Augenschein zu nehmen, die mir trotz alledem zur Verfügung stehen.