3. Aktiv und lebendig statt apathisch

Tanja: Weshalb ist es wichtig, über den seelischen Stress zu sprechen, den die derzeitige Krise mit sich bringt?

 

 

Dietmar: Man spricht schon seit Jahrzehnten davon, dass 60-90 % aller Arztbesuche in irgendeiner Weise mit belastendem Stress zu tun haben. Irgendwo gibt es Anforderungen in uns oder um uns herum, für die wir zu wenig Ressourcen haben.
Wo immer es um Gesundheit geht – sei es vorbeugend oder behandelnd – sollte das Thema Stress angeschaut werden, um Bewahrung oder Entlastung erleben zu können.

 

 

Tanja: Eigentlich verstehen wir ja unter Stress, dass jemand zu viel arbeitet. In manchen Berufen wird jetzt noch mehr gearbeitet als gewohnt. Vermutlich noch mehr Menschen arbeiten jedoch in der Corona-Krise weniger oder gerade gar nicht. Können die auch gestresst sein? 

 

Dietmar: Wir leben von der Ausgewogenheit. Zuviel Arbeit ist ein Problem und zu wenig kann genauso eines sein. 

 

 

Tanja: Aber alle Welt spricht vom Burnout – also einer Überforderung. Kann also eine Unterforderung Menschen auch stressen und gesundheitlich belasten?

 

 

Dietmar: In der Tat. Dem Burnout steht das Boreout gegenüber. Dieser weniger bekannte Begriff ist von dem Englischen Langeweile abgeleitet. Die beiden scheinbar gegensätzlichen Befindlichkeitszustände berühren sich und können ähnliche Erschöpfungssymptome zeigen.

 

 

Tanja: Wie zeigt sich ein Boreout – gerade jetzt?

 

 

Dietmar: Viele Menschen empfinden jetzt ihre Tage eher als sinnentleert. Das kann auch bei denjenigen der Fall sein, die ihre Arbeit nicht besonders mögen. Innere Anspannung und Gereiztheit können die Folgen sein. Wenn man in Beziehung tritt, kann es eher zu Konflikten kommen, die sich nicht so schnell auflösen lassen, weil einem der Hintergrund nicht bewusst ist.
Wir Menschen sind zum Tätigsein geschaffen. Ausruhen ist auch gut, kann aber nur im Wechsel zu Aktivität als wirklich angenehm empfunden werden.

 

 

Tanja: Wie kann man der Langeweile entgegenwirken?

 

 

Dietmar: Ich kann mich erinnern, dass ich als kleines Kind meine Mutter mit den Worten genervt habe: „Mir ist langweilig.“ Erst als ich etwas älter geworden war, hatten wir einen Bildschirm, der mir die Zeit hätte vertreiben können. 

 

Dann habe ich irgendwann meine schöpferische Kreativität entdeckt, die in mir ist, aber auch um mich herum. Manche sagen von mir, ich sei besonders kreativ. Aber ich würde mal vermuten, dass sie in jedem Menschen steckt. Der Unterschied ist vielleicht lediglich, dass die einen mehr damit rechnen als die anderen.

 

 

Tanja: Veranschaulichst du uns mal, wie du mit der Kreativität unterwegs bist?

 

 

Dietmar: Ich gehe jetzt einmal mehr auf Entdeckungsreise, was ich an Schönem und Wertvollem mit meinen Sinnen bislang noch gar nicht wahrgenommen habe. Der Frühling verändert die Natur ja gerade so stark, dass man manche Veränderungen von einem Tag auf den anderen beobachten kann. Aber auch wer sich nicht (alleine) in freier Natur bewegen kann – auch in der eigenen Wohnung kann man bisher unentdeckte Nuancen wahrnehmen. Man nehme beispielsweise mal etwas in die Hand und führe sich vor Augen, was wir damit schon alles gemacht haben und wobei es uns noch begleiten könnte. Nehmen wir Details wahr, wie sich das anfühlt, es genau aussieht. Kramen wir Bilder heraus, die etwas Gutes in Ihnen auslösen oder achten wir auf einzelne Töne, um interessante und wohltuende Klänge herauszuhören.  Alles in allem: Seien wir kreativ in unserer Wahrnehmung. Dann wird unser Leben nach innen lebendiger. Und manchmal können uns Zeiten äußerlicher Einschränkungen gerade daran erinnern, welchen Reichtum an Sinnesreizen es um uns herum gibt und wartet, von uns beachtet zu werden. Wir könnten einfach achtsamer werden. 

 

 

Tanja: So kann also jeder Tag ein Abenteuer sein.

 

 

Dietmar: Genau. Dann erscheinen unsere Tage nicht mehr so öde. Jeder kann seinen eigenen Wert haben. Und wir müssen nicht mehr nur darauf warten, bis alles vorbei ist und im alten Trott weiterläuft.